202112.13
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Der Anscheinsbeweis beim Verkehrsunfall

Viele Verkehrsunfälle sind, was die Verursachung angeht, höchst streitig. Meist hilft die Rechtsfigur des Anscheinsbeweises.

  1. Warum Anscheinsbeweis?
  2. Wie werden Verursachungsbeiträge bewertet?
  3. Was steckt dahinter?
  4. Einzelfälle
    1. a) Hinten Auffahren = schuld
    2. b) Wer die Vorfahrt missachtet ist schuld
    3. c) Zuerst im Kreisverkehr bedeutet Vorfahrt
    4. d) Linksabbieger sind immer schuld
  5. Was bleibt dem Schädiger übrig?


1. Warum Anscheinsbeweis?

Da es bei Unfällen zwischen Kraftfahrzeugen nicht auf die Frage der „Schuld“ ankommt, gibt es viele Regeln, welche die Verantwortlichkeit der sogenannten Verursachungsbeiträge gemäß § 17 Straßenverkehrsgesetz (StVG) bewertet wird. Danach gilt folgendes:

Wird ein Schaden durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht und sind die beteiligten Fahrzeughalter einem Dritten kraft Gesetzes zum Ersatz des Schadens verpflichtet, so hängt im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.

Hintergrund ist die so genannte verschuldensunabhängige Haftung, die aus § 7 StVG den Halter trifft. Danach muss der Halter haften,

wenn beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt wird.

Auf eine Schuld kommt es nicht an. Alleine der Betrieb eines Kraftfahrzeugs führt zur Haftung.

TIP: Das ist im Übrigen auch der Grund, warum für den Betrieb von Kraftfahrzeugen eine Pflicht-Haftpflichtversicherung notwendig ist. Gegen diese kann der Geschädigte Ansprüche direkt geltend machen. Man spricht von einem Direktanspruch. Der ergibt sich aus § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG):

Der Dritte kann seinen Anspruch auf Schadensersatz auch gegen den Versicherer geltend machen, wenn es sich um eine Haftpflichtversicherung zur Erfüllung einer nach dem Pflichtversicherungsgesetz bestehenden Versicherungspflicht handelt

Ein Unfallgeschädigter soll nämlich nicht dem Risiko ausgesetzt werden, dass der eigentliche Verursacher „nichts hat“ oder nicht ermittelbar ist. Das Opfer soll also nicht das Insolvenzrisiko tragen.


2. Wie also werden die Verursachungsbeiträge bewertet?

Grundsätzlich kommt es darauf an, welcher Verkehrsteilnehmer gegen welche verkehrsrechtlichen Vorschriften verstoßen hat. Diese Vorschriften ergeben sich aus primär aus der Straßenverkehrsordnung. Da ein Unfall selten dadurch zustande kommt, dass ausschließlich ein Verkehrsteilnehmer einen Fehler macht, muss festgestellt werden, wessen Verursachungsbeitrag überwiegt.  Dabei wird untersucht, in welchem Maße die jeweiligen Halter durch die von ihnen zu vertretenden Verursachungsfaktoren zum Entstehen des Unfalls und des daraus resultierenden Schadens beigetragen haben. Es werden also die Verursachungs- (und gegebenenfalls Verschuldensbeiträge), sowie die von den Kfz jeweils ausgehende Betriebsgefahr unter jeweiliger Berücksichtigung des Mitverschuldens und aller Umstände des Einzelfalls in die Waagschale geworfen.

Hierbei behilft sich die Rechtsprechung oft der Figur des Anscheinsbeweises.


3. Was steckt dahinter?

Grundsätzlich muss in einem Prozess jeder das beweisen, was ihm günstig ist. Denn, so der Bundesgerichtshof (BGH) dürfen bei der Ausgleichspflicht mehrerer Unfallbeteiligter gem. § 17 StVG nur tatsächlich bewiesene Umstände herangezogen werden; für Verschuldensvermutungen ist dabei kein Raum. Daraus folgt nach allgemeinen Beweisgrundsätzen, dass im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen belasten (So hat der BGH schon im Urteil vom 13. Februar 1996 – VI ZR 126/95 entschieden). Das ist in der Praxis oft sehr schwer. Deswegen kann sich ein Geschädigter auf einen Anscheinsbeweis berufen, wenn ein Sachverhalt feststeht, der typischerweise auf eine bestimmte Ursache oder ein Verschulden hinweist. Es muss also ein typischer Geschehensablauf feststehen, der nach der Erfahrung des Lebens den Schluss auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten rechtfertigt.

Steht dieser Geschehensablauf nach der Überzeugung des Gerichts fest, muss sich derjenige zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis greift, entlasten. Und das ist gar nicht so einfach. Dies geht nur, wenn ein Sachverhalt dargelegt und bewiesen wird, der für einen anderen Geschehensablauf spricht. Erst dann wird der Anscheinsbeweis erschüttert. Es reicht also bei weitem nicht aus, irgendwelche Vermutungen zu äußern oder Behauptungen ins Blaue hinein vorzunehmen. Vielmehr muss der Richter im Sinne von § 286 ZPO von der Wahrheit überzeugt sein. Dazu

darf und muss sich der Richter in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 14. Januar 1993 – IX ZR 238/91, NJW 1993, 935

Hohe Hürden also. Wann greift dann der Anscheinsbeweis?


4. Einzelfälle

Einige Einzelfälle tauchen in unserer Praxis immer wieder auf. Diese möchten wir Ihnen kurz darstellen:


a) Auffahrunfall

Landläufig heißt es: Wer hinten drauf fährt ist schuld! Grundsätzlich richtig. Denn die Rechtsprechung geht davon aus, dass der Fahrer in diesem Fall den notwendigen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat und deswegen gegen § 1 StVO verstoßen hat. Danach hat sich jeder Verkehrsteilnehmer

so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Wenn es trotzdem zum Auffahrunfall kommt, spricht der Beweis des ersten Anscheins also dafür, dass der Auffahrende nicht aufgepasst oder den notwendigen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat. Trotzdem gibt es Ausnahmen:

Fahrspurwechsel vor dem Unfall:

Nach einem Fahrspurwechsel, der den Anscheinsbeweis grundsätzlich erschüttert, kann eine Typizität erst wieder angenommen werden, wenn beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander gefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrzeugbewegungen einstellen konnten

Unnötiges Bremsen vor dem Unfall

Ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein nachfolgender Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren, weshalb der Anscheinsbeweis nicht dadurch erschüttert wird, dass das vorausfahrende Fahrzeug durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt (BGH, Urt. v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05, DAR 2008, 337)


b) Auffahrunfall nach Vorfahrtsverstoß

Der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden kommt nicht zur Anwendung, wenn das Auffahren im räumlich-zeitlichen Zusammenhang mit einem Einbiegen aus einer untergeordneten Straße geschieht. Wenn ein vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug außerhalb des Einmündungsbereiches auf ein aus einer untergeordneten Straße eingebogenes anderes Fahrzeug auffährt, das zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht die auf der Vorfahrtsstraße übliche Geschwindigkeit erreicht hatte, kann aus dem typischen Geschehensablauf abgeleitet werden, dass der Unfall auf eine Vorfahrtsverletzung des Einbiegenden zurückzuführen ist (OLG München, Urteil vom 21. April 1989, 10 U 3383/88) Das setzt also zwei Dinge voraus:

  • einen räumlichen und
  • einen zeitlichen

Zusammenhang zwischen Auffahren und Vorfahrtsverstoß.


c) Kreisverkehr (LG Saarbrücken)

Das Landgericht Saarbrücken geht davon aus, dass Der Beweis des ersten Anscheins für einen Vorfahrtsverstoß des in einen Kreisverkehr Einfahrenden spricht, wenn er im Einmündungsbereich mit einem im Kreisverkehr fahrenden Verkehrsteilnehmer kollidiert. Denn dessen Vorfahrtsberechtigung steht fest, weil er zuerst in den Kreisverkehr eingefahren ist.


d) Linksabbiegen in Grundstück (Überholen)

Derjenige, welcher nach links in ein Grundstück abbiegt hat hohe Sorgfaltspflichten. Er muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist. Kommt es trotzdem zum Unfall zB mit einem Überholenden, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er seine doppelte Rückschaupflicht verletzt hat. Diesen Anscheinsbeweis kann der Abbieger nur dann entkräften, wenn er darlegt und beweist, dass für den Überholenden eine so genannte unklare Verkehrslage geherrscht hat.
Die Gerichte entscheiden dabei immer so:

Kommt es zwischen einem Linksabbieger und einem Überholer zu einer Kollision, so spricht der Anscheinsbeweis für einen Verstoß des Linksabbiegers gegen seine Pflichten aus § 9 Abs. 1 der StVO. Fehlt es an Anzeichen für ein bevorstehendes Linksabbiegen, liegt keine unklare Verkehrslage im Sinne von § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO vor, sodass ein Überholen zulässig ist.


5. Was bleibt dem Schädiger übrig?

Natürlich gilt auch hier: Einen Rechtsanwalt beauftragen. Herr Jarno C. Kirnberger, Fachanwalt für Verkehrsrecht berät Sie. Auch wenn der Anscheinsbeweis zunächst gegen Sie spricht kann durch sorgfältiges Aufarbeiten des Unfallgeschehens eine Mithaftung des Gegners argumentiert werden. Wenn dann noch eine Vollkaskoversicherung besteht, kann mit dem so genannten Quotenvorrecht schnell eine „schwarze Null“ im Geldbeutel erreicht werden.


Ihre Fragen zu diesem Thema Anscheinsbeweis beantwortet Herr

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